S. Chatillon: Les poilus de Haute-Savoie

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Titel
Les poilus de Haute-Savoie. Les poilus de Haute-Savoie. Conscription, mobilisation, réinsertion sociale, 1889–1939


Autor(en)
Chatillon, Sébastien
Erschienen
Rennes 2020: Presses Universitaires de Rennes (PUR)
Anzahl Seiten
317 S.
von
Christian Koller, Schweizerisches Sozialarchiv, Schweizerisches Sozialarchiv

Die Forschung zum Ersten Weltkrieg hat im Zusammenhang mit dem Zentenarium einen weiteren Aufschwung genommen. Während seit den 1990er-Jahren kultur-, alltags-, gewalt- und geschlechtergeschichtliche Ansätze zunehmend rezipiert worden waren, erfolgte nun in zahlreichen Publikationen einerseits eine Ausweitung auf global- und imperialhistorische Zusammenhänge und Phänomene, andererseits eine verstärkte mikrohistorische Konzentration auf Regionen und Ortschaften. In letzteren Bereich gehört das Buch von Sébastien Chatillon, das auf einer 2015 an der Université de Lyon verteidigten Dissertation beruht und erstmals die Geschichte von Hochsavoyen und besonders seiner Soldaten im Ersten Weltkrieg detailliert analysiert. Der Autor verbindet dabei quantitative Untersuchungen, die auf der Auswertung der militärischen Matrikelregister beruhen, mit kultur- und mentalitätshistorischen Fragestellungen, die er anhand von Feldpostbriefen, Soldatentagebüchern und Memoiren bearbeitet. Der zeitliche Rahmen geht weit über die Jahre 1914 bis 1918 hinaus und spannt sich vom späten 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit.

Die ersten beiden Kapitel befassen sich hauptsächlich mit der Zeit von 1889 bis zum Kriegsausbruch. Hochsavoyen hatte einen speziellen, jedoch auch etwas unklaren Status. Auf dem Wiener Kongress gelangte Savoyen zum Königreich Sardinien-Piemont, Hochsavoyen sollte aber neutralisiert werden und im Kriegsfall besass die Eidgenossenschaft das Recht auf militärische Besetzung des Gebiets. Dies wurde nach der Abtretung des Gebiets durch Sardinien-Piemont an Frankreich 1860 auch von Napoleon III. anerkannt, aber nie genauer konkretisiert. Auch wirtschaftlich bestand eine enge Verbindung mit der Eidgenossenschaft durch eine Freihandelszone, die Teile Hochsavoyens umfasste. Dies hatte zur Folge, dass die französisch-schweizerische Zollgrenze nicht mit der politischen Staatsgrenze identisch war, sondern im Innern Hochsavoyens verlief. Im Rahmen der vollständigen Reorganisation der der französischen Armee nach der Niederlage von 1870/71 erfolgte auch eine Militarisierung Hochsavoyens, indem eines der neu gegründeten Alpenjägerbataillone ab 1889 in Annecy angesiedelt wurde. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs waren dann insgesamt etwa 3’000 Soldaten in Annecy, Thonon-les-Bains und Rumilly stationiert, verstreut auf verschiedene Kasernen. Diese Truppen wurden von der Zivilbevölkerung im Wesentlichen positiv gesehen. Die Garnisonen waren nicht zuletzt auch ein wirtschaftlicher und finanzieller Faktor in der noch stark landwirtschaftlich geprägten Region. Der Autor beschreibt auch detailliert die verschiedenen Dimensionen der Wehrpflicht und ihrer Umsetzung in Hochsavoyen vom komplizierten Rekrutierungsprozedere über den Grundwehrdienst, der in den Vorjahren des Ersten Weltkriegs zwei bis drei Jahre dauerte, bis zum etwa zweieinhalb Jahrzehnte langen Dienst in der Reserve.

Die folgenden drei Kapitel befassen sich mit der Zeit des Ersten Weltkriegs. Das dritte Kapitel bietet eine sehr detaillierte Auswertung der Verlust- und Gefallenendaten der Jahre 1914 bis 1918. In der bisherigen Literatur geisterten für Hochsavoyen Zahlen von 9’000 bis über 11’000 Gefallenen herum. Ausweislich der Militärmatrikel verzeichnete Hochsavoyen 10’862 Tote und Vermisste, das waren 4,25 Prozent der Gesamtbevölkerung beziehungsweise 15,3 Prozent der Mobilisierten. Allerdings sind in dieser Zahl die erst nach dem Waffenstillstand verstorbenen Soldaten nicht eingeschlossen; ausserdem verzeichneten die Kriegsveteranen in der Folgezeit eine überdurchschnittliche Sterblichkeit. Insgesamt 49 Prozent der Mobilisierten fielen während der Kriegszeit durch Tod, Verlet zung, Unfall, Krankheit, Gefangenschaft oder Verschwinden dauerhaft aus. Das anschliessende Kapitel nähert sich durch Auswertung von Selbstzeugnissen Dimensionen der Kampferfahrung, wobei die in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in der internationalen, insbesondere deutschsprachigen Forschung entwickelten Ansätze zur Nutzbarmachung dieser Quellengattung für die Kriegsgeschichte indessen nicht diskutiert werden. Der Autor untersucht in verschiedenen thematischen Abschnitten Schilderungen von Kampferlebnissen, Bemerkungen zur materiellen Prekarität, Wahrnehmungen von Truppen verbündeter Länder und afrikanischer Kolonialsoldaten sowie Aussagen zur Motivation und Moral der «poilus». Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der Unterstützung der kämpfenden Soldaten durch das Hinterland («l’autre front»). Nach Ausführungen zur Stimmung in der Bevölkerung, wirtschaftlichen Lage und Kriegsfinanzierung legt der Autor insbesondere die Rolle gemeinnütziger Organisationen dar. Nicht weniger als 51 von 57 während des Kriegs in Hochsavoyen registrierte Organisationen kümmerten sich um die einheimischen Soldaten und deren Familien.

Die letzten beiden Kapitel sind der Zeit nach 1918 gewidmet. Kapitel 6 analysiert verschiedene Aspekte der Rückkehr der «poilus» ins Zivilleben, beginnend mit der Demobilisation und verschiedenen damit verknüpften Zeremonien und dann der Wiedereingliederung ins Berufs- und Privatleben. Nach 1918 war die weitaus grösste Gruppe der Kriegsveteranen wieder in der Landwirtschaft tätig, jedoch anteilmässig doch bedeutend weniger, als sie es vor dem Krieg gewesen war (43 statt 55 Prozent). Die meisten Demobilisierten kehrten zunächst in ihre Herkunftsorte zurück, viele zogen aber bereits kurz darauf weg, was der Autor mit beruflichen Neuorientierungen und privaten Veränderungen in Zusammenhang bringt. Die Heiraten, die während des Krieges bedeutend zurückgegangen waren, nahmen nach 1918 stark zu. Dieselbe Tendenz zeigte sich indessen auch bei den Scheidungszahlen. 23 Prozent der Demobilisierten erhielten aufgrund bleibender Kriegsschäden staatliche Pensionen, die aber in den meisten Fällen gering waren. Auch die Umschulung und berufliche Wiedereingliederung der Invaliden wird detailliert dargestellt. Das letzte Kapitel schliesslich widmet sich dem gesellschaftlichen Vermächtnis des Ersten Weltkriegs in Hochsavoyen. Knapp ein Drittel der ehemaligen «poilus» waren in der Zwischenkriegszeit Mitglieder von Veteranenverbänden. Viele Sektionen solcher Organisationen entstanden bis in die frühen 1920er-Jahre, noch bis 1940 nahm die Zahl von Sektionen aber kontinuierlich zu. Kristallisationspunkte kollektiver und individueller Trauer waren Denkmäler, von denen in Hochsavoyen über 300 entstanden und die der Autor detailliert punkto thematischer Ausrichtung und geografischer Verteilung unter- ucht. 57 Prozent waren weltlich, 43 Prozent religiös (katholisch). Bei beiden Typen überwog eine patriotische Ausrichtung, bei den weltlichen Denkmälern finden sich aber auch vereinzelte mit einer pazifistischen Tendenz.

Als Fazit hält der Autor fest, der Erste Weltkrieg habe die «entrée brutale de la Haute-Savoie dans la modernité» dargestellt. Die Bevölkerung ging von 1911 bis 1921 um 7,5 Prozent zurück. Damit einher ging eine Schrumpfung der Landwirtschaft und ihre Restrukturierung in Richtung der stärker in den gesamtfranzösischen Markt integrierten Milchwirtschaft. Industrie und Gewerbe hingegen prosperierten nach dem Krieg dank dem Wiederaufbau des französischen Nordostens und der Verlegung der Zollgrenze zur Staatsgrenze mit der Schweiz. Der nationale und internationale Tourismus in der Region erlebte in der Zwischenkriegszeit einen Wiederaufschwung. Politisch verloren die Radikalen an Bedeutung. Einerseits gelangen den Sozialisten und der Gewerkschaft CGT gewisse Zuwächse, andererseits verliess der politische Katholizismus seine bisherige Ghettoposition, so dass Hochsavoyen in der Zwischenkriegszeit politisch zunehmend nach rechts rückte.

Sébastien Chatillons Arbeit ist eine gut strukturierte, quellengesättigte Regionalstu- die, die anhand Hochsavoyens die ganze Palette von Fragestellungen und Themen durchdekliniert, die in der jüngeren Regionalforschung zum Ersten Weltkrieg diskutiert worden sind. Zwar fällt forschungsmässig ein französischer Röhrenblick auf, so bei der einleitenden Darstellung der historiographischen Entwicklung – von der Weltkriegsforschung der Zwischenkriegszeit von Pierre Renouvin und im Umfeld der «Bibliothèque de documentation internationale contemporaine» über die «Annales»-Schule und «Nouvelle Histoire» mit den grundlegenden Arbeiten zur französischen Weltkriegsgesellschaft von Jean-Jacques Becker, Antoine Prost und Jules Maurin bis zur Lancierung einer kulturgeschichtlichen Weltkriegsforschung durch das Kolloquium von Nanterre von 1988, aber ohne Hinweise auf im Wesentlichen gleichgerichtete internationale Forschungstendenzen – und dem Nichteinbezug von Regionalstudien zu sozioökonomisch vergleichbaren Gebieten in anderen Ländern. Dies wird aber durch umfassende Quellenkenntnisse und scharfsinnige Analyse sowie die gelungene Verbindung quantitativer und qualitativer Ansätze, sozial-, kultur- und militärhistorischer Perspektiven mehr als aufgewogen.

Zitierweise:
Koller, Christian: Rezension zu: Chatillon, Sébastien: Les poilus de Haute-Savoie. Conscription, mobilisation, réinsertion sociale, 1889–1939, Rennes 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 470-472. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.